Nichts ging mehr. Der Webshop für mehr als 3 Millionen Kund:innen war quasi tot. Keine Buchung ging mehr durch das System. Und jetzt? Was war geschehen?
„Ab jetzt alle Energie auf die Lösung dieses Problems. Jede Stunde Ausfall kostet uns eine 5-stellige Summe“ – Klaus, der Leiter des IT-Betriebs, war extrem angespannt aber ruhig. Die vereinbarten Notfallmechanismen liefen an, eine Task-Force aus Entwicklung, Betrieb und Fachseite fand sich kurzfristig zusammen und nahm die Arbeit auf. Zweieinhalb Stunden später war der Fehler zurückverfolgt, in einer Datenbankkonfiguration gefunden und korrigiert. Der Betrieb normalisierte sich schnell.
Erleichterung machte sich breit. Wenigstens für einige Momente. Denn der eigentliche Grund für den Fehler war noch nicht gefunden. „Danke für euren Einsatz und die Konzentration bei der Fehlersuche, aber die Arbeit ist nicht vorbei. Nach einer kurzen Pause möchte ich alle aus der Task-Force in einer Nachbesprechung wiedersehen“, machte Klaus klar. „Ich möchte verstehen wie es zu dem Fehler gekommen ist, das darf nicht wieder passieren.“
Die Schuldfrage
In der Nachbesprechung lag eine große Spannung in der Luft. Niemand traute sich, Klaus – der offensichtlich kurz zuvor unangenehme Fragen aus dem Management beantworten musste – in die Augen zu sehen. „Wer war betrieblich verantwortlich zu dem Zeitpunkt? Ihr wolltet doch mehr Verantwortung für eure Arbeit haben. Dann sorgt gefälligst auch dafür das alles reibungslos läuft“, herrschte Klaus sein Team an.
„Ich will eine detaillierte Aufarbeitung, wie die Abläufe vor der Katastrophe waren. Der Verantwortliche sollte sich schon einmal überlegen, ob er einen solchen Fehler noch einmal machen will.“
Mit diesen Worten stürmte Klaus aus dem Raum. Im Team begann die Diskussion, wer welchen Fehler gemacht hatte. Eine Diskussion, die du vielleicht aus deinem Unternehmen nur zu gut kennst. Eine Diskussion, bei der es weniger um den Fehler selbst geht als um den Schuldigen. Und darum, die Schuld vor allem von sich selbst wegzudrücken.
Nach einiger Zeit wurde das Bild etwas klarer. Aber aus irgendeinem Grund blieben die Informationen vage und unvollständig – und damit auch die Strategie, solche Fehler zukünftig zu vermeiden. So entstand eine Situation die unbefriedigend ist – und die du in deinem Unternehmen vermeiden solltest. Doch wie?
Die tatsächliche Nachbesprechung
Zum Glück ist es so nicht im realen Projekt abgelaufen. In der Realität war die Retrospektive durch die Erleichterung geprägt, den Fehler relativ schnell gefunden zu haben. Das gesamte Team wollte herausfinden wie man solche Situationen zukünftig vermeiden kann. Es ging schnell. Manuel, ein langjähriger externer Mitarbeiter im Betrieb meldete sich: „Wir müssen nicht lange suchen, ich habe den Fehler verursacht. Ich hatte ein Skript gestartet, welches Routine-Wartungen durchführt. Leider habe ich übersehen, dass eine Vorbedingung nicht erfüllt war, und das Skript hat die fatale Veränderung durchgeführt. Die Abhängigkeit war mir nicht bekannt, daher mussten wir einige Zeit nach der Ursache suchen“.
Klaus war erleichtert: „Gut, dass wir die Gründe für das Problem so klar sehen. Aber was können wir tun, um nicht mehr in die Situation zu kommen?“. „Darüber habe ich schon nachgedacht“, sagte Manuel sofort. „Es ist eine einfache Automatisierung welche die Vorbedingung überprüft. Ich habe sie schon vorbereitet, muss sie noch kurz testen und kann sie dann live bringen.“ Für Klaus war das Thema damit geklärt.
Diese Situation habe ich tatsächlich so in agilen Organisationen erlebt. Sie ist meiner Überzeugung nach die beste Form des Umgangs mit Problemen. Und sie gibt uns viele Hinweise für einen positiven und konstruktiven Umgang mit Fehlern in deinem Unternehmen.
Verantwortung und Fehlerkultur
In einem derartigen Umfeld trauen sich Mitarbeiter:innen sogar bei einem folgenschweren Fehler offen und konstruktiv mit den Problemen umzugehen. Sie verschwenden ihre Energie nicht auf die Suche nach Schuldigen und deren Bestrafung. Statt dessen bemühen sich alle Beteiligten, die Probleme, welche Fehler begünstigen, in den Strukturen und Abläufen zu finden. Sie verstehen, dass Fehler auch bei umsichtiger Arbeitsweise passieren – um so mehr, wenn die Entwicklung flexibel bleiben und nicht in zu vielen Regeln gefangen sein soll.
Natürlich heißt dies nicht, dass fortan alle Fehler akzeptiert und „weggelächelt“ werden. Aber es geht immer um eine konstruktive Aufarbeitung mit dem Ziel, die Fehlerquellen sukzessive zu verringern. Persönliche Befindlichkeiten können in solch einem Umfeld in den Hintergrund rücken, und ein angstfreier Austausch über Lösungen wird möglich. So kann das agile Credo „Inspect and Adapt“ auch wirklich umgesetzt werden.
Die Veränderung, die eine solche Kultur in einem Unternehmen mit sich bringt, ist beeindruckend. Nicht nur werden Probleme schnell und unbürokratisch gelöst. Die Beteiligten beginnen schnell, sich mit ihrer Aufgabe zu identifizieren und auch in kritischen Situationen wie der oben geschilderten über Verbesserungen nachzudenken. Hieraus entsteht schnell eine Kultur der stetigen Verbesserung, der vertrauensvollen Zusammenarbeit und der intensiven Identifikation mit dem eigenen Produkt. Und das wiederum bemerkt man in der Produktqualität.
„Ich bin beeindruckt, Klaus, welches Maß an betrieblicher Exzellenz der Webshop in den letzten zwei Jahren erreicht hat“, hatte Claudia, die Geschäftsführerin des Unternehmens, auf einem Führungskräfteworkshop kurz darauf als Feedback gegeben. „Du hast deine Truppe wirklich hervorragend im Griff“.
Klaus lächelte. Er kannte das Geheimnis, und würde es in der nächsten Session des Workshops allen noch einmal näher bringen. Damit in Zukunft niemand mehr Zeit und Energie mit der Suche nach einem Schuldigen verschwendet, sondern alle an einem Strang ziehen – zum Wohl der Kund:innen und des Unternehmens.